Über Männlichkeit und ihre Fragilität

Olga Tokarczuk neuer Roman dreht sich um Männlichkeit – und ihre Fragilität. Die ZEIT

Als Mieczysław Wojnicz ein kleiner Junge war, bewunderte er die Uniform seines Onkels. Er bewunderte die Epauletten und Orden – ein Zeichensystem, das Klarheit und Eindeutigkeit erzeugt. Erst die Uniform, fand Wojnicz, gebe einem Mann Form. Eines Nachts aber, als Wojnicz aufgestanden war, weil die Blase drückte, da traf er auf seinen Onkel – ohne Uniform. Die heruntergelassene Hose hing um die Knöchel, und eine »bräunliche Gurke« baumelte zwischen den behaarten Beinen. Da realisierte Wojnicz: Verliert ein Mann seine Form, dann bleibt nichts außer Lächerlichkeit. 

Empusion, der neue Roman der polnischen Literaturnobelpreis-Trägerin Olga Tokarczuk, handelt von der fragilen Oberfläche des Mannseins. Von Männern, die sich in endlosen Debatten verirren, pausenlos andere, längst verstorbene Männer zitieren, nur um sich selbst reden zu hören. Die nichts mehr fürchten als ihre eigene Lächerlichkeit. Kurzum: Empusion dreht sich um die großen Identitätsthemen unserer Zeit, um toxische Männlichkeit, Mansplaining und Genderfluidität, und man könnte ihn für einen Zeitgeistroman halten, würde er nicht, wie bei Tokarczuk üblich, so wunderbar altmodisch daherkommen. 

Empusion, der Titel, ist ein Kofferwort: Es setzt sich zusammen aus »Empusia«, einer weiblichen Spukgestalt aus der griechischen Mythologie, und »Symposium«, was so viel wie »geselliger Umtrunk« bedeutet. Die Synthese dieser beiden Begriffe beschreibt im Wesentlichen die Handlung: Sie vollzieht sich im September 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in einem Sanatorium, gelegen in dem Städtchen Görbersdorf an der schlesisch-deutschen Grenze. Dort werden Tuberkulose-Kranke behandelt. Wojnicz ist einer von ihnen. Die meiste Zeit sitzen die Patienten zusammen, allesamt sind es Männer, verköstigen sich an einem Likör mit dem schönen Namen »Schwärmerei« und philosophieren über eine mögliche fünfte Dimension, Religion, Sozialismus, Europa oder moderne Kunst. Doch egal, worum es geht, früher oder später kommt das Gespräch immer auf das Schreckgespenst zurück: die Frauen. Dann überbieten sich die Herren gegenseitig in ihrer Misogynie, werfen mit angeblichen Belegen für die Minderwertigkeit der Frauen um sich. Die Argumente, die Tokarczuk ihren Figuren in den Mund legt, stammen dabei allesamt von männlichen Geistesgrößen wie Aurelius Augustinus, Plato, Jean-Paul Sartre oder Sigmund Freud, wie sie im Anhang erklärt. Zwei Beispiele: »Ob es uns nun gefällt oder nicht – einzig die Mutterschaft rechtfertigt die Existenz dieses problematischen Geschlechts.« Oder: »Im philosophischen Sinne können wir das Weib nicht als vollkommenes, in seiner Entwicklung abgeschlossenes Subjekt betrachten (…) Der Mann verleiht der weiblichen Identität einen Rahmen.« 

Wer sich bei der Handlung – ein Sanatorium in den Bergen, philosophierende Männer – an Thomas Manns Zauberberg erinnert fühlt, liegt nicht falsch. Wie Manns Hans Castorp ist auch Wojnicz ein Student eines technischen Fachs, Wasser- und Kanalisationsbautechnik. Und auch die Nebenfiguren, Wojniczs Gesprächspartner, zu denen er wie zu Mentoren aufblickt, ähneln Settembrini oder Naphta. Ein jeder deckt eine weltanschauliche Denkrichtung ab. August August: ein aufgeklärter Sozialist. Walter Frommer: Mystiker und Theosophist. Longinus Lukas: ein konservativer Katholik, der Dekadenz und Verfall beklagt.

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Olga Tokarczuk hat einen polnischen “Zauberberg” geschrieben: In einem schlesischen Lungensanatorium diskutieren Männer mit Männern über Frauen – bis der Erste Weltkrieg losbricht. Als Mieczysław Wojnicz ein kleiner Junge war, bewunderte er die Uniform seines Onkels. Er bewunderte die Epauletten und Orden – ein Zeichensystem, das Klarheit und Eindeutigkeit erzeugt.

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