Über den Kampf ums Überleben
Ein aggressiver Krebs. Ärzte geben ihm Monate. Das war vor zwölf Jahren. Denn es gibt ein Medikament! Nur: Niemand zahlt es ihm. Wie ein Mann gegen das Sterben kämpft. Gemeinsam mit Clara Hellner, ZEIT Ressort X, Fotos: Lena Giovanazzi
Am Ufer eines Baggersees zwischen Schwarzwald und französischer Grenze steigt ein Mann vom Sattel seines Mountainbikes. Er blickt über das Wasser, sanfter Wind lässt die Oberfläche vibrieren. Im Tiergehege nebenan füttert ein kleines Mädchen eine Ziege.
Mit der Sportsonnenbrille, der schlanken Figur und dem Nike-Hoodie könnte man meinen, der Mann trainiere für einen Triathlon. Doch das Radleroutfit ist trügerisch: Die Brille verbirgt die Schatten unter den Augen, und die eingefallenen Wangen. Der Pulli, der an den Gliedern schlackert, versteckt die vielen Narben: unter dem Schlüsselbein, am rechten Oberbauch, an den Rippen. Man sieht auch nicht, dass sein Darm wie eine Beule aus seinem Bauch hervortritt, seitdem ihm die Bauchmuskeln entfernt werden mussten. Er ist nicht drahtig. Stephan Berger ist Haut und Knochen. Er ist 1,78 Meter groß und wiegt nur 57 Kilogramm.
Berger heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen möchte er in diesem Text nicht preisgeben. Er sei kein Mensch, der gern im Mittelpunkt stehe, sagt er.
Kürzlich hat Berger in einer wissenschaftlichen Studie gelesen, was die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen wie ihn ist. Menschen also, die an einem epitheloiden Sarkom erkrankt sind – ein Tumor, der von Bindegewebszellen ausgeht, eine der seltensten Krebsarten überhaupt. Gehe die Krankheit wie bei ihm mit Metastasen einher, hieß es dort, dann liege die Lebenserwartung bei etwa elf bis fünfzehn Monaten. Und doch ist er noch da. Steht hier mit seinem E-Mountainbike und blickt über den See: zwölf Jahre später, mehrere Zehntausend Euro ärmer.
Berger erzählt, dass er sich in den vergangenen Jahren alle paar Monate einem “Tribunal” gegenüber sah. So nennt er die Screening-Termine. Mit seiner Frau fährt er dann in die Klinik nach Tübingen. Manchmal, sagt er, hat er die Bilder vom Radiologen schon dabei, die vermessen sollen, ob sich der Tumor verändert hat. Manchmal muss er vor dem Besprechungstermin noch in die CT- oder MRT-Röhre. In der Onkologie zieht er dann eine Nummer, sitzt im Wartebereich mit all den anderen Kranken, stundenlang, während Wut und Angst sich immer weiter hochpeitschen. Dann, nach drei oder vier Stunden, wenn er das Klackern der Schuhe der Assistentin hört, beginnt er, am ganzen Körper zu zittern. Am liebsten würde er schreien, weinen, davonfliegen. Doch er muss sich zusammenreißen, ins Besprechungszimmer gehen, zuhören. Schon an dem Tonfall, mit dem der Arzt ihn jetzt begrüßt, versucht er zu erahnen, ob es gute Nachrichten gibt oder schlechte. Ob es wieder von vorne losgeht. Ob der Arzt schon wieder Sätze sagt, die er jetzt schon so oft gehört hat: Das Medikament spreche nicht mehr an, neue Metastasen, man sehe, was man tun kann.
Bergers Krankheit ist extrem selten. Weniger als 50 Deutsche erkranken jedes Jahr an dieser Art von Krebs. Bergers jahrelanges Überleben ist ein absoluter Einzelfall. Und doch ist Bergers Geschichte keine Ausnahme. Jede einzelne dieser seltenen Krebserkrankungen betrifft weniger als 5.000 Menschen in Deutschland pro Jahr – aber zählt man sie alle zusammen, machen sie knapp ein Viertel aller Krebsfälle in Deutschland aus.
Das Wissen über Krebs ist inzwischen so präzise, dass sich Tumore nicht mehr nur danach einteilen lassen, in welchem Organ sie ihren Ursprung haben, sondern auch nach den unterschiedlichen Zellen dieses Organs, nach ihrem genetischen Profil.
Diese Präzision hat die Behandlung von Krebs grundlegend verändert. Das Mittel der Wahl bei vielen Krebsarten war einst die Chemotherapie, die Krebszellen und gesunde Zellen gleichzeitig schädigt – in der Hoffnung, dass die Krebszellen als Erstes untergehen. Heute bekommen zwei Patienten, die früher vielleicht dieselbe Chemotherapie erhalten hätten, unterschiedliche Medikamente. Diese sind auf das jeweilige individuelle Genprofil der Krebszellen zugeschnitten. Sie wirken im besten Fall wie ein Gärtner, der das Unkraut mit der Pinzette aus dem Blumenbeet herauszieht.
Nur: Je spezifischer die Medikamente sind, desto schwieriger wird es auch, ihre Wirksamkeit zu testen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die evidenzbasierte Medizin durchgesetzt: Behandlungsentscheidungen sollen nicht nach Traditionen oder der Meinung einzelner Ärzte getroffen werden, sondern auf Grundlage von wissenschaftlich nachgewiesener Wirksamkeit. Das funktioniert am besten mit großen Studien an Tausenden Patienten. Doch naturgemäß leiden an seltenen Krebserkrankungen wenige Menschen. Manchmal so wenige, dass sich Patientengruppen für medizinische Studien kaum zusammenstellen lassen.
Die Onkologen müssen die Wirksamkeit der neuen Medikamente also anders nachweisen. Die meisten Kliniken in Deutschland haben mittlerweile sogenannte molekulare Tumorboards eingerichtet, in denen die Ärzte darüber diskutieren, was jenseits der zugelassenen Medikamente eingesetzt werden kann. Sie schauen sich Einzelfallberichte an. Lesen Studien von Patienten mit Tumoren an anderen Organen, dafür mit ähnlichen genetischen Charakteristika. Sie prüfen Evidenz aus dem Labor, wo Medikamente in Zellkulturen oder an Mäusen untersucht werden. Ganz am Ende steht – als schwächste aller Evidenzen – die “biologische Rationale”, wie Krebsmediziner sie nennen: Schlussfolgerungen, die die Ärzte lediglich auf Grundlage ihres Wissens über Mutationen, Signalwege und andere biologische Merkmale des Krebses machen.
Berger ist dabei weiter gegangen als die meisten. Als die in den Leitlinien vorgeschlagenen Medikamente bei ihm nicht mehr wirkten, hat er Dutzende Ärzte um Rat gefragt, ist von Uniklinik zu Uniklinik gefahren – bis ihm einer eine weitere Therapie vorschlug, die für seinen Tumor nicht zugelassen war.