Über den Traum von Freiheit

Die marokkanische Hafenstadt Tanger galt einst als Sehnsuchtsort amerikanischer Dandys. Heute kämpfen Einheimische für die Eigenständigkeit ihrer Kunst – und gegen denWiderstand des konservativen Islam –CICERO

Es gibt diesen Tanger-Mythos: Du bist eigentlich nur auf der Durchreise, aber irgendetwas hält dich fest – und ehe du dich versiehst, kaufst du dir ein Haus, beobachtest für den Rest deines Lebens mit einem frisch gepressten Orangensaft in der Hand, wie sich die Wellen vor der Kasbah brechen. Tanger ist wie ein Magnet, wer ihm zu nahe kommt, kann sich ihm nicht entziehen. Ein schwarzes Loch, das dich verschluckt. Wenn Tanger also die Stadt der Gelegenheitsabenteurer ist, dann gehört Mohammed Mrabet eigentlich gar nicht hier her. Denn Mrabet, der Maler und Geschichtenerzähler, wollte nie woanders sein. 

An der Straße von Gibraltar wirkt es fast so, als würden sich Europa und Afrika die Finger reichen. Rund zehn Seemeilen sind es von Spanien übers Mittelmeer bis nach Tanger, der Millionenstadt im Norden Marokkos. Mit der Fähre vom andalusischen Tarifa aus braucht man für die Strecke etwas mehr als eine Stunde. Schon wenn sich das Schiff der afrikanischen Küste nähert, zeigt sich Tanger mit seinem gesamten Charme: Die weißen Altstadthäuschen reihen sich manierlich wie Bausteine aufeinander, vom Hafen bis hoch zur historischen Festung, der Kasbah. Vom ersten Moment an ist der Reisende erfüllt durch diese Tanger-spezifische Leichtigkeit. Am Stadtstrand traben Kamele und Pferde durch den Sand, der Geruch von Kümmel, Safran und frischem Obst liegt in der Luft, und auf den Dachterrassen tanzt die Wäsche im warmen Wind des Mittelmeers. 

Mohammed Mrabet in seinem Wohnzimmer

Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, welche Faszination Tanger auf die vielen großen Schriftsteller hatte, die sich im 20.Jahrhundert in den hektischen Gassen der Medina, der traditionellen muslimischen Altstadt, einnisteten: William S. Burroughs, Paul und Jane Bowles, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Truman Capote, Tennessee Williams. Allesamt Outsider des amerikanischen Literaturbetriebs, Querköpfe, Dandys. 

Burroughs, der in Tanger viele Jahre verbrachte, sprach in seinem drogenhalluzinierenden „Naked Lunch“ von der „Interzone“, einem Niemandsland zwischen den Welten. Er suchte hier, was er weder in Europa noch Amerika finden konnte. Denn das Tanger seiner Zeit verband die Schönheit des Orientalischen mit einer historisch einzigartigen Freizügigkeit, mit Drogen und (häufig homosexuellem) Sex. Burroughs und die anderen fanden all das an dem Ort, der so leichtfüßig alle Erwartungen brach, wie Okzident und Orient doch bitte zu sein haben. 

Tanger ist ein Kind des Spätkolonialismus. Als strategisches Tor nach Nordafrika war die Stadt hoch attraktiv: für die Spanier und die Franzosen, die den Rest Marokkos unter sich aufteilten. Auch für Deutschland, das 1905 eine diplomatische Krise auslöste, als Wilhelm II. die Stadt besuchte. 1923 machten acht Mächte die Stadt und ihr Umland zur internationalen Zone, in der de facto Anarchie herrschte. Sie existierte bis 1956. Tanger entzog sich der Regierung Marokkos, wurde zum Rückzugsort für die Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs, zum Paradies für Spione, für Schmuggler. Und für jeden, der sich ein Leben außerhalb bürgerlicher Regelsysteme wünschte. Es florierten Schwulenbordelle, Drogen gab es an jeder Straßenecke zu kaufen. 

Heute stellen sich andere Fragen: Kann ein Tanger der radikalen Freiheit dem vorpreschenden muslimischen Konservatismus trotzen? Und wie frei kann sich dieser marokkanische Kulturbetrieb von seinen westlichen Vorbildern machen? 

Wandfoto im El Muniria, dem Hotel, in dem William S. Burroughs abstieg: Peter Orlovsky, Burroughs, Allen Ginsberg (von links)

1931 besuchte ein junger Amerikaner namens Paul Bowles das erste Mal Tanger. Fast zwei Jahrzehnte später sollte er mit seiner Ehefrau Jane wiederkommen und bleiben. Bowles schrieb in Tanger „Sheltering Sky“, „Himmel über der Wüste“. Ein existenzialistischer Roman über drei Amerikaner unterwegs in der Sahara, 1949 erstmals erschienen. „Wir sind keine Touristen, wir sind Reisende. Ein Tourist ist jemand, der vom Moment der Ankunft über das Nachhausekommen nachdenkt“, heißt es am Anfang des Buches. Bowles fand in Tanger sein neues Zuhause. 

„Sheltering Sky“ trug dazu bei, dass Tanger zum Sehnsuchtsort einer kulturellen Avantgarde wurde. Projektionen eines wilden, romantischen Orients verbanden sich hier mit den Freiräumen für einen anarchistischen Hedonismus. Dabei war diese Avantgarde eine westliche, sie blieb meist unter sich. Das Interesse des dauerberauschten Burroughs für die Menschen vor Ort galt vor allem minderjährigen Lustknaben. Die gelebte Freiheit im Orient hatte einen kolonialistischen Beigeschmack. 

Tanger verband den romantischen Orient mit anarchischem Hedonismus

„Sheltering Sky“ hat das Leben der Schweizer Autorin Amsél Muheim verändert. Die Wohnung der dunkelhaarigen Dame mit markantem Züricher Akzent und dem Hang zu grellen Kleidungselementen liegt im vierten Stock eines herrlichen Altbaus, in einer Nebenstraße beim Place de France. Draußen riecht es nach Bratfett und Autoabgasen. Motoren, Straßenhändler und Kleinkinder kreischen um die Wette. Drinnen: einladendes, weitläufiges Wohnzimmer, verwinkelte Gänge, an der Wand hängt Kunst von Mohammed Drissi, einer Art marokkanischem Ernst Ludwig Kirchner. Der Balkon gibt den Blick auf den glitzernden Teppich des Mittelmeers frei, wie auf einem impressionistischen Gemälde verläuft das Blau des Meeres an seinen Rändern mit dem grauen Küstenstreifen Spaniens. 

Foto-Ausstellung in Tanger: Eine Stadt zwischen Tradition und Moderne?

Die erste Berührung mit „Sheltering Sky“ hatte Amsél dank Bernardo Bertolucci. Der hatte Bowles’ Roman 1990 verfilmt, Debra Winger und John Malkovich spielten das Ehepaar Kit und Port Moresby. Eine Offenbarung: „Ich war überwältigt“, sagt sie. „Es ging um Freiheit – um die Frage, wie frei ein Mensch sein kann. Frei von alten Mustern, von seinem kulturellen Hintergrund.“ Und dann diese Bilder: die Weiten der Wüste, die engen Gassen der Medina – „atemberaubend“. Amsél, die junge Studentin mit drei kleinen Kindern, hatte einen Entschluss gefasst: Sie müsse nach Tanger. Als sie das erste Mal in der nordafrikanischen Stadt ankam, habe sie sich wie Paul Bowles in seiner Autobiografie „Without Stopping“ gefühlt: Sie habe geahnt, dass hier Probleme gelöst würden, von deren Existenz sie bisher noch nicht einmal wusste. Was Tanger ausmache? „Schwer zu sagen“, sagt Amsél. „Es ist, wie wenn du dich verliebst. Warum ausgerechnet in diese Person? Vielleicht ist es das Orientalische, vielleicht der Mix der Kulturen. Und die geografische Lage als Brücke zwischen Okzident und Orient.“ 

Wie sieht es der heute 84-jährige Mohammed Mrabet? Der Maler erzählt langsam und in seinem Tanjawi-Dialekt von seiner Kindheit, es klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Jeden Tag hätten er und seine 24 Geschwister frischen Fisch aus dem Mittelmeer gegessen. „Wir aßen wie die Löwen“, sagt Mrabet. Er kenne keinen besseren Ort als das Tanger der fünfziger Jahre: „Ich war in New York, in San Francisco und Iowa, in Mexiko, Brasilien, Frankreich, Spanien, Österreich, den Niederlanden, Deutschland. Nirgends war es so gut wie hier. Tanger ist wie eine Rose.“ Menschen aller Nationalitäten wollten hier leben. 

Auf einer dieser ausschweifenden Partys, auf denen sich jeden Samstag die Ausländer Tangers versammelten, lernte Mrabet Jane Bowles kennen – die von Ängsten geplagte, knabenhafte Gattin Pauls, platonische Inspirationsquelle in einer Ehe, in der sich beide Partner mehr für Abenteuer mit Menschen des eigenen Geschlechts interessierten. Mrabet, als Arbeitskraft auf der Party, habe die Frau mit dem Kurzhaarschnitt alleine im Hof sitzen sehen, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Bier. „Ich wollte wissen, warum sie mit niemanden sprach“, erzählt Mrabet. Jane grüßte ihn auf Marokkanisch. „Isäläm.“ Die Unterhaltungen auf der Party langweilten sie. „Sie deutete auf den Joint in meiner Hand und fragte, was ich da rauche. Dann nahm sie einen Zug davon und hustete. Ich sagte ihr, ich will ihr eine Geschichte erzählen.“ 

In den engen Gassen der Medina verläuft man sich schnell

Jane gefielen Mrabets Geschichten so sehr, dass sie ihrem Mann davon erzählte. Paul Bowles habe Mrabet gefragt, wo er das Geschichtenerzählen gelernt hatte. 

„Ich habe zwischen Bäumen studiert, bin über Steine gesprungen und in den Staub gefallen“, antwortete Mrabet – alles, was er konnte, lehrte ihn das Leben. Paul Bowles sah ihn überrascht an. Kaum ein Wort Marokkanisch habe Bowles gesprochen, erzählt Mrabet. „Er dachte, er könnte es. Nur Jane beherrschte die Sprache wirklich.“ 

Paul Bowles bot Mrabet an, seine Geschichten zu übersetzen und sie in Amerika zu publizieren. Immer seien sie unter Bowles Namen erschienen: „Sein gesamtes Spätwerk ist von mir“, behauptet Mrabet. „Er war eigentlich nie ein richtiger Schriftsteller.“ Von dem Geld aus Amerika habe er nie etwas gesehen. „Als er krank wurde, bin ich bei ihm geblieben. Ich trug ihn zu Bett, wusch ihn, half ihm auf die Toilette, habe für ihn gekocht. Er aber hat mir meine Geschichten gestohlen.“ 

In kurzer Zeit trat an die Stelle hedonistischer Freiheit eine ökonomische

Tanger veränderte sich. 1957 wurde die Stadt wieder Teil Marokkos. König Hassan II. vernachlässigte Tanger, den Sündenpfuhl. Nach dem Tod Hassans folgte ihm sein Sohn Mohammed VI. Der neue König, ein Freund ausschweifender Partys, resozialisierte Tanger – und machte die Stadt samt umliegender Region 1997 zur Freihandelszone mit Niedrigsteuern für Unternehmen. Zehn Jahre später eröffnete TangerMed, der heute drittgrößte Hafen des Mittelmeers. Der neue Wirtschaftsstandort brachte Arbeitsplätze internationaler Unternehmen, zog so immer mehr Menschen an. Lebten in den siebziger Jahren noch 170 000 Menschen in der Stadt, sind es inzwischen weit über eine Million. Tanger hatte innerhalb von ein paar Jahrzehnten seinen Freiheitsbegriff umgedichtet: Aus einem hedonistischen wurde ein ökonomischer. Die Wiedereingliederung Tangers in das Königreich Marokko veränderte die Stadt aber nicht nur wirtschaftlich. Wie im gesamten Land galt jetzt auch in Tanger die Scharia. Plötzlich stand Homosexualität wieder unter Strafe – und man könnte meinen, dass auch die Sache mit dem Rausch schwieriger werden würde. 

Paul Bowles mit Marokkanern, das Bild hängt in der amerikanischen Gesandtschaft

Nördlich der eleganten Rue Mohammed V suchen ausgemergelte Katzen zwischen den Müllbergen nach Essbarem. Das Grenouille liegt an der Schnittstelle zwischen dem Tanger hübscher Cafés und dem dezenter Verwahrlosung. Nur wenige Meter weiter steht das Hotel, in dem William S.Burroughs „Naked Lunch“ schrieb. Als sich Abdellatif Mehdi und seine Freunde vor dem Grenouille treffen, ist es bereits Abend. Hier, oberhalb der steil abfallenden Hänge, hat man einen fantastischen Blick aufs Meer. Die auf sanften Hügeln versprengte Stadt umringt das tiefe Dunkel des Wassers mit einem Lichtermeer. 

Abdellatif ist ein Mann mit gutbürgerlicher Erscheinung: freundliches Lächeln, kahl rasierter Kopf, Brille. Gutbürgerlich ist dagegen ein absolut unpassender Begriff, wenn es um Mehdis Malerei geht. „Ich glaube, dass Tanger für dieses Thema vielleicht nicht bereit ist“, sagt er. Er spricht von seiner neuen Arbeit, die er bald ausstellen will: „L’art et la mort“, „Die Kunst und der Tod“. Sehr morbide, viel Gerippe. Kunst solle doch gerade die existenziellen Fragen des menschlichen Daseins ausleuchten, sagt Mehdi. Wie das in Tanger mit den muslimischen Sittenvorstellungen läuft, erklärt Mehdi so: Alles darf, solange es hinter Wänden geschieht. Alkohol ist in Bars okay, zu Hause sowieso, nur auf öffentlichen Plätzen nicht. Mit dem Sex ist das ähnlich, auch mit dem nichtheterosexuellen. 

Wie liberal Marokko heute wirklich ist, ist schwer zu sagen

Das Grenouille, französisch für „der Frosch“, verbindet klassische Musik und anspruchsvolle Malerei an den Wänden mit dem brachialen Charme von Fußballübertragungen. In Europa hätten die Menschen ein ganz falsches Marokkobild, sagt Asis, ein stämmiger, klein gewachsener Mann mit Glatze, der ein wenig wie Ben Kingsley aussieht, ein Freund von Abdellatif. Europäer blieben fern, weil sie Angst vor dem Islamismus hätten – dabei sei es hier viel sicherer als in den meisten europäischen Städten. Überhaupt sei Marokko ein Land mit großer Liberalität, auch wegen des Königs. Jeder hätte seinen Platz, unabhängig von der Religion. In keinem Land sei die jüdische Gemeinde beispielsweise so groß gewesen wie hier. Als viele nach Israel auswanderten, wollte Mohammed V., Großvater des heutigen Monarchen, sie eigentlich gar nicht gehen lassen: „Sie alle sind meine Kinder“, habe er gesagt. 

Abdellatif Mehdi: “Die Kunst und der Tod”

Wie liberal Marokko wirklich ist, ist schwer zu sagen. In Marokko existiert neben der Scharia eine Verfassung. Wann nun diese und wann das wahrhaftige Wort Allahs gilt, ist oft willkürlich. Kulturschaffende haben weitreichende Freiheiten, weder Religion noch Politik oder Sexualität sind unumstößliche Tabus. Andererseits gab es den Fall der 14 inhaftierten Musiker: 2009 lösten Polizisten eine Bandprobe auf. Heavy-Metal-Musiker in ihren Mittzwanzigern, schwarze T-Shirts, angeblich hatten sie ihre Zigaretten in einem Totenschädel abgeascht. Die Staatsanwaltschaft stellte sie vor Gericht: Die Männer seien Satanisten, sie erschütterten den muslimischen Glauben. „Normale Menschen gehen mit Anzug und Krawatte ins Konzert“, sagte der Richter – und verhängte Haftstrafen von drei Monaten bis zu einem Jahr. Der Fall veränderte die Musikszene des Landes.

Die Brüder Nao, Monz und Youssef dachten nicht, dass sich in Marokko jemand für laute westliche Musik interessieren würde, für Grunge und Hardrock. Also verließen sie ihre Heimatstadt Tanger und gingen nach Europa, um Musik zu machen. In Reading, einer Stadt nahe London, gründeten sie die Band Lazywall, benannt nach einem Ort in Tanger: „Die Mauer der Faulen“. Zurück nach Marokko kamen sie erst durch die Einladung zum L’Boulevard-Festival in Casablanca. „Wir waren ganz überrascht“, erzählt Monz, der Gitarrist: „Ein Rockfestival in Casablanca? Unmöglich!“

Tatsächlich wurde das Festival 1999 gegründet, gerade einmal 500 Menschen kamen damals. Zehn Jahre später spielten die Brüder vor 20 000 Leuten, so etwas hatte es in Marokko vorher nie gegeben. Da kehrten die drei zurück nach Tanger. Das Festival war die direkte Folge der Inhaftierung der jungen Musiker. Damals gingen Zehntausende auf die Straße, protestierten, bis die Männer aus dem Gefängnis entlassen wurden. Die mediale Aufmerksamkeit für das Schicksal der jungen Musiker wurde zur Werbung für ein ganzes Genre, das L’Boulevard zu einer Art Woodstock des Orients. Für Nao von der Band Lazywall ist Tanger der Ort, an dem westliche Rockmusik im Orient angekommen ist. Paul Bowles hatte damals die Rolling Stones nach Tanger geholt, die mit den Panflötenmusikern von Jajouka performten. Wie auch Led Zeppelin sind die Stones unüberhörbar von marokkanischer Volksmusik beeinflusst. „Hier verflossen Okzident und Orient musikalisch“, sagt Nao. „Für uns schließt sich jetzt der Kreis. Damals haben wir diese Bands aus dem Okzident gehört, die sich von Marokko inspirieren ließen. Heute sei Lazywall eine marokkanische Band mit westlichem Einfluss.“

Hardrock-Band Lazywall: Synthese von Okzident und Orient

Die Epoche der großen amerikanischen Schriftsteller-Migranten in Tanger endete am 18. November 1999. An jenem Tag starb Paul Bowles, der einzige, der bis zum Schluss in der Stadt blieb. Bowles wurde 89 Jahre alt, er war einer der wenigen, denen ein langes Leben vergönnt war. Viele andere raffte der langjährige Drogen- und Alkoholkonsum frühzeitig dahin. Jack Kerouac, der Beat-Beau, der Autor der Ausbrecher-Bibel „On the Road“, starb einsam und alkoholkrank mit 47 Jahren in Florida. Der tuntige Exzentriker Truman Capote, von Halluzinationen geplagt, tingelte seine letzten Jahre durch Sanatorien und Krankenhäuser, starb 60-jährig. Tennessee Williams war 71 Jahre alt, als er angeblich an einem Flaschenverschluss für Nasenspray erstickte. Sein Bruder vermutete hingegen, Tennessee Williams sei ermordet worden, nachdem er zuvor Opfer schwulenfeindlicher Gewalt geworden war. 

An seine letzte Begegnung mit William S.Burroughs kann sich Mohammed Mrabet noch genau erinnern. Er saß in einem Café. Als Burroughs zu ihm kam, habe er ihn gefragt, was er trinken wolle. „Tee mit Zitrone“, antwortete der Schriftsteller. Er habe gezittert, kaum sprechen können. Man hörte das Klappern seiner Zähne: „Tacktacktacktacktack.“ Ein paar Männer mussten ihn wegtragen. Eine Woche später war Burroughs, jahrzehntelang schwer heroinabhängig, tot. Er war immerhin 83 Jahre alt, als sein Herz versagte. Seine große Hinterlassenschaft ist der fragmentarische Antiroman „Naked Lunch“, ein halluzinierender Trip in die Tiefen der menschlichen Abgründe. 

Burroughs an seinem 70. Geburtstag. Bild: Astrojunta/ Wiki Commons

Was bleibt, außer der Erinnerung? Die Legende der großen literarischen Abenteurer, die in Tanger einen Ort fundamentaler Freiheit fanden und nie wieder wegwollten. Sie ist, will man Mohammed Mrabet Glauben schenken, auch die Geschichte eines großen Hinterhalts. Und doch stellt sich die Frage, ob der Geist der toten Männer aus Amerika nicht vielleicht doch einen Samen pflanzen konnte, dessen zarter Spross jetzt sichtbar wird. Ein Spross, der ein Hoffnungsschimmer ist in einer Gegenwart, in der die regressiven Tendenzen des konservativen Islams die Berichterstattung über muslimische Länder dominiert. 

Mohammed Mrabet, das letzte Bindeglied zwischen dem Tanger der Beats und der Gegenwart, vermisst den frischen Fisch seiner Kindheit. Was es heute gebe, sei geschmackloses, tiefgefrorenes Zeug. „Gestern wollte ich mir Fisch am Hafen kaufen. Eine tiefgefrorene Goldbrasse kostet dort 13 Dollar. Früher bin ich für einen Dollar satt geworden.“ Sein Haus in den Außenbezirken Tangers verlasse er kaum noch. „Es gibt so viele Hochhäuser, wo soll ich hier noch spazieren gehen?“ Und die Frauen, die abends unten am Boulevard stehen, deren Gesichter voller Makeup sind. 

„Das hat alles nichts mehr mit mir zu tun.“ Vielleicht ist es in Tanger Zeit für eine neue Generation. 

Kultur in Marokko – Was vom Tanger-Mythos in Zeiten der Scharia geblieben ist

Autoreninfo Benedikt Herber ist freier Journalist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie in München. Seine Ausbildung absolviert er an der Deutschen Journalistenschule und schreibt für die Zeit, die Welt und die Süddeutsche Zeitung.


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2 Kommentare

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