Über den Wert großer Gesten

Das Magazin, Foto: Eric/ Wiki Commons

Ein Freund heiratete in Bari, Apulien, die Trauung fand in der Basilica San Nicola statt, in deren Krypta die Gebeine des heiligen Nikolaus ruhen. Als sich der Regen verflüchtigt hatte, Sonnenstrahlen durch die Fensterfront fielen und den hellen Marmor dieses herrlichen romanischen Baus erstrahlen liessen, da erklang Felix Mendelssohn Bartholdys Hochzeits- marsch. Die Braut schritt über den roten Teppich, eingehakt in den Arm des alten Vaters, auf meinen Jugendfreund zu, der schüchtern lächelte wie ein kleiner Junge; und wir, betört von dem Moment, wir standen stramm und aufrecht, ganz so wie diese tau- sendjährigen Arkaden, in deren Gesellschaft wir uns nun befanden.

Mit meinen einunddreissig Jahren war es die erste kirchliche Hochzeit, die ich miterleben durfte. Im- mer seltener feiern Paare auf diese Weise, allein seit 2011 haben kirchliche Vermählungen in der Schweiz um rund einen Drittel abgenommen. Wenn sich Freunde bisher verheirateten – und oft machten sie das aus administrativen Gründen, wie sie betonten – dann sollte es bloss ein kleines Fest werden. Ein Sekt- empfang vorm Standesamt, dann weiter in ein nettes Café. Möglichst ungezwungen, möglichst wenig Auf- wand. Nichts soll den Eindruck erwecken, man neh- me das Ganze zu ernst. Ich finde das schade.

Warum meiden Menschen so häufig die grosse Geste, wenn es um ihre Liebe geht? Man könnte argumentieren, dass das ja gar nicht an der Liebe selbst liegt, sondern an der Institution Kirche: die verstaubte Moral, die Missbrauchsskandale, schon klar. Doch hat Heiraten für die meisten relativ wenig mit Glau- ben zu tun, eher mit kollektiven Sehnsüchten: Es gibt kaum einen Disneyfilm, bei dem am Ende nicht die Kirchenglocken läuten. Selbst der Fuchs Robin Hood, dem man doch eher ein linkes, antiklerikales Weltbild unterstellen würde, heiratet seine Marian in einer Kirche, bevor sie zusammen in der goldenen Kutsche davonfahren.

Wahrscheinlich ist also doch die romantische Liebe das Problem. Denn genau wie Disneyfilme erscheint sie wie ein Märchen, die Welt jedoch ist komplizierter. Wir sehen nicht, wie der Prinz und Cinderella nach der Hochzeit darüber streiten, wer die Kinder von der Schule abholt. Ob die Care-Arbeit fair verteilt ist. Liebe ist harte Arbeit, ist Kampf, und in etwa der Hälfte der Fälle geht dieser Kampf verlo- ren; Affäre, Scheidung, Sorgerechtsstreit. Das Gute am Standesamt mit seinem schnöden Linoleum- Charme: Es erzeugt erst gar keine Sehnsüchte, die sich als unerfüllbar herausstellen könnten.

Und dann ist da noch dieses kollektive Gefühl der Erhabenheit, das wir an jenem Tag fühlten, als die Worte des pastore in den Gemäuern der Basilica San Nicola widerhallten: «Vuoi sposarla?» – «Willst du sie heiraten?» Ich habe den Verdacht, dass es ebenjenes Erhabenheitsgefühl ist, das uns am Rituellen un- heimlich ist. Erhabenheit, das bedeutet so viel wie Würde, Grösse, wie Gravität – allesamt verstaubte Be- griffe aus den muffigen Kellern des Konservatismus. Auch die Nähe zum Militärischen ist offensichtlich. Der Heroismus ist die bösartige Mutation des Erha- benen, die uns wie eine Droge in die Selbstzerstörung treibt. Drogen sind stärker als Vernunft. Kein Wunder also, dass sich die Kirche der Erhabenheitssehnsucht jahrtausendelang schamlos bediente, um uns mit ihrem Weihrauch, ihrer Monumentalität zu betäu- ben. Ist es nicht so?

Es gibt gute Argumente dafür, dem Pomp, dem Inszenierten zu misstrauen. Bescheiden zu sein und realistisch. Und doch begriff ich an jenem Tag, dass wir das Erhabene nicht ganz aus unserem Leben ver- bannen sollten. Ich hatte mich mit den beiden früher oft zu Hause getroffen, wir assen Antipasti und Fo- caccia, dann setzten wir uns aufs Sofa und schauten einen Film. Sie wirkten verliebt, ja. Eine nette, eine heimelige Liebe. Und doch liess sich ihre Bedeutung nur erahnen. Jetzt aber, als sie sich im Beisein Hunderter in die Augen blickten, als sie die Worte aussprachen: «Sì, io voglio», «ja, ich will» – da war es etwas anderes. Eben weil sie sich völlig unironisch zur grossen Geste bekannten, wirkte dieses Bekennt- nis umso eindrücklicher, aufrichtiger. Später fuhren wir auf ein Landgut. Als sie den ersten Tanz eröffneten, legte sie den Kopf auf seine Brust, die Luft duftete nach Oliven.

Vermutlich ist es so: Wir müssen den Dingen, die von Bedeutung sind, einen Rahmen geben, in dem wir diese Bedeutung hin und wieder fühlen dürfen. Und was wäre bedeutender als die Liebe?

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